Heftige Kontroverse um verlängerte Wochenruhezeiten für Lkw-Fahrer
Zwischen EU-Kommission und Vertretern der internationalen LKW-Transportwirtschaft spitzt sich die Auseinandersetzung bezüglich der verlängerten Wochenruhezeiten für Lkw-Fahrer zu. Wie die Kommission 2017 vorschlug, sollen die Fahrer ihre Ruhezeit von mindestens 45 Stunden pro Woche nicht mehr in Fahrerkabinen, sondern Unterkünften verbringen. Betroffen ist vorwiegend der Ladungsverkehr in Europa. Die Umsetzung ist mit enormen Konsequenzen verbunden. Allein in Deutschland fehlen 50.000 Fahrerbetten.
Nicht nur Transportunternehmen, auch die verladende Wirtschaft Europas, Aufsichtsbehörden und Kommunen sehen sich angesichts der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Vorgabe drastischen Folgen gegenüber. Es werden neue Parkmöglichkeiten für mehrere Hunderttausend Schwer-Lkw benötigt, die auf Europas Fernstraßen unterwegs sind. Diese wären wöchentlich zwei Tage mit den Lastwagen belegt. Hinzu kommt der Bedarf an geeigneten Schlafmöglichkeiten. Hotels oder hotelähnliche Unterkünfte sind gefordert. Bislang verbrachten die Fahrer ihre Ruhezeiten in den Schlafkabinen ihrer Fahrzeuge, die sie hierfür auf Raststätten und Parkplätzen an Autobahnen sowie Umgebung parkten. Auch Parkplätze entlang der Logistikzentren und Industriestandorte wurden genutzt.
Die EU-Kommission will mit der Vorgabe das Risiko im Verkehr mindern, das von übermüdeten Fernfahrern ausgeht, sowie die Wettbewerbs-, Lebens- und Arbeitsbedingungen verbessern beziehungsweise innerhalb der EU harmonisieren. Doch die Verordnung wird kritisiert. Unternehmen des Straßengüterverkehrs und dessen Repräsentanten warnen vor kontraproduktiven Folgen für Infrastruktur, Umwelt und Sicherheit. Auch die Funktionsfähigkeit der Logistiksysteme in Europa und Wettbewerbsfähigkeit von Regionen und Branchen sei gefährdet. Zudem würde die Verordnung die Lebens- und Arbeitsqualität der Fahrer verschlechtern.
Zahlen und Fakten
Rund 150.000 bis 160.000 Schwer-LKWs aus dem Ausland halten sich täglich in Deutschland auf. Manche ruhend, manche fahrend, andere sind mit dem Be- und Entladen beschäftigt. Ihre jährliche Fahrleistung auf deutschen Autobahnen liegt bei über 14 Milliarden Kilometern, was 360 Kilometer je Lastkraftwagen und Werktag entspricht. Schätzungen zufolge erwirtschaften ausländische Lkws damit allein in Deutschland 40 Prozent des hiesigen Schwerlastverkehrsumsatzes. Das sind rund 20 bis 25 Prozent des Marktes in Europa. Rund 50 Prozent der ausländischen Fahrer sind mehr als eine Schichtzeit in der Bundesrepublik, weshalb sie ihre Ruhezeiten vor Ort einlegen müssen. Ihre Pause von neun Stunden pro Tag dürfen sie in Schlafkabinen und auf den genannten Parkmöglichen abhalten. Daher benötigen rund 75.000 bis 80.000 ausländische Fahrer einen Parkplatz. Der Gesamtbedarf an Stellplätzen dürfte rund 50 Prozent höher liegen und somit bei etwa 110.000 bis 120.000, da auch ein Teil der deutschen Fahrer einen Parkplatz auf den Strecken benötigt.
Eine Untersuchung es BMVI ergab, dass auf den meist überfüllten Parkplätzen an den Autobahnen in Deutschland momentan jede Nacht rund 70.000 deutsche und ausländische LKWs parken. Dazu kommen zwischen 30.000 und 40.000, die sich für die Ruhezeiten nahegelegene Standplatze suchen. Gelegentlich weichen sie hierfür auf ungeeignete Flächen an Wohngebieten und Landstraßen aus. Etwa 50.000 Fahrer aus dem Ausland bleiben einmal wöchentlich in Deutschland, um ihre verlängerte Ruhezeit von Minimum 45 Stunden einzuhalten. Sie benötigen, meist am Wochenende eine Unterkunft außerhalb der Fahrzeuge.
Kapazitäten für „angemessene“ Fahrerschlafgelegenheiten, wie sie die EU-Kommission verlangt, sind momentan sowohl an Autobahnen als auch in Industriegebieten Mangelware. Deutschland verfügt zwar über rund 1,1 Millionen Gästebetten in insgesamt 44.000 Hotels und Pensionen für durchschnittlich 90 Euro pro Nacht, allerdings können die Lkws nur einen Bruchteil davon ansteuern. Zudem fehlt es an legalen Parkplätzen mit entsprechenden Sicherheitsvorkehrungen. Da aktuell keine realistischen Lösungen zur Schaffung von mindestens 50.000 Übernachtungsmöglichkeiten vorliegen, werden die neuen Vorschriften zu Ruhezeiten von der Transportwirtschaft als nicht praktikabel eingestuft. Dementsprechend haben die internationalen Straßentransportunternehmen derzeit drei Optionen, um die Vorgaben zu erfüllen:
- Einige große Speditionen sind bereits damit beschäftigt an bestimmten Standorten Lkw-Park- und Schlafmöglichkeiten zu schaffen beziehungsweise befinden sich in der Planungsphase. Die Suche nach Grundstücken und Finanzierungsmöglichkeiten geht allerdings mit einigen Herausforderungen einher. Die Schaffung dichter Netze mit derartigen Stationen erfordert langfristige Realisierungsmaßnahmen, falls überhaupt machbar. Diese Variante ist kapitalkräftigen Unternehmen und Investoren vorbehalten.
- Eine andere Möglichkeit besteht darin, die Ruhezeiten zu meiden. Möglich machen, könnten das entsprechende Konzepte seitens der Transportunternehmen hin zu Begegnungsverkehren. Fahrerbasen und Stationen zum Fahrerwechsel entlang entsprechender Routen, sorgen dafür, dass jeder Fahrer lediglich Streckenabschnitte absolviert und anschließend direkt zur Basis zurückkehrt. Die Routen werden in Segmente innerhalb zulässiger Tagesschichtzeiten gestückelt. Allerdings sind derartige Fahrpläne für Begegnungsverkehre relativ starr, wodurch Anpassungen und kurzfristiges Reagieren auf das individuelle Güteraufkommen kaum möglich sind.
- Die Betriebe könnten dafür sorgen, dass ihre Fahrer maximal zwei Wochen unterwegs sind und dann in ihre Heimat zurückkehren. So wären sie nicht von der Ruhezeit von mindestens 45 Stunden pro Woche betroffen. Das wäre für Lkw-Fahrer, die quer in Europa unterwegs sind, wiederum mit kurzfristigen Rückfahrten zur Heimat verbunden, unabhängig von verfügbaren Rückladungen und Anschlussaufträgen. Unternehmen werden in ihrer wirtschaftlich wichtigen Möglichkeit eingeschränkt, auf Fluktuationen bei Güterströmen und strukturelle Unpaarigkeiten zu reagieren.
Als vierte Option lässt sich das Verbringen der verlängerten Wochenruhezeiten in den Lkw-Kabinen nennen, was allerdings nicht legal wäre.
Ökonomische Konsequenzen
Die ökonomischen Konsequenzen und Auswirkungen auf die Wirtschaftlichkeit durch die gelisteten Möglichkeiten sind vielschichtig. Allein die Hotelkosten für Übernachtungen im Bereich der Lkw-Transporte verursachen in Deutschland zusätzliche rund 300 Millionen Euro jährlich. In Europa dürfte die Zahl bei mehr als einer Milliarde Euro liegen. Auch Versicherungen zum Schutz vor Diebstahl und Schäden, die angesichts der fahrerlos abgestellten Fahrzeuge unverzichtbar sind, lösen immense Kosten aus. Nicht zu vergessen die Ausgaben für potenzielle Umwege und Parkgebühren. Der Kostenanstieg würde bei ein bis zwei Prozent liegen. Da es aber sowieso an Schlaf- und Stellplätzen mangelt, ist von dieser Option, zumindest momentan, eine geringe Entlastung zu erwarten.
Kehren die Fahrer rechtzeitig zurück und können verlängerte Wochenruhezeiten zuhause verbringen, steigen die Kosten laut Schätzungen von großen Speditionen um 20 Prozent. Schließlich bräuchten die Flottenbetreiber zusätzliche Fahrzeuge und Fahrer, um die identische Transportleistung zu erreichen. Eine solche Kostenexplosion hätte markante Folgen. Viele große Auftraggeber, die kostensensible Güter verladen, werden ihre Versorgungsketten umgestalten, um ihre Wirtschaftlichkeit zu sichern. Dies würde beispielsweise Konsumgüter wie Obst und Gemüse sowie Industrieprodukte, die in Ost- und Südeuropa hergestellt werden, betreffen. Für wichtige Industrien innerhalb der EU-Wirtschaftsregionen wäre das Aus ihrer Wettbewerbsfähigkeit auf europäischen Märkten besiegelt, was nicht im Sinne der EU sein kann. Schließlich will sie Wirtschaft und Wohlstand dieser Länder fördern.
Die europäische Transportwirtschaft wäre aber auch strukturell betroffen: Die Konzentrationstendenzen werden eine Beschleunigung erfahren, da die legalen Handlungsmöglichkeiten lediglich sehr kapitalstarke Straßentransportunternehmen bewältigen können.
Umwelt und Sicherheit gefährdet
Sind die Unternehmen gezwungen, Lkws in kürzeren Intervallen einzusetzen und würde daraufhin der aktuelle Anteil von durchschnittlich 23 Prozent Leerkilometerfahren laut EU-Statistik 2017 um ein Prozent steigen, würde das 600 Millionen zusätzliche Leerkilometerfahren im Fernverkehr nach sich ziehen. Das bedeutet 180 Millionen Liter Diesel extra. Die Umwelt würde durch die neue Verordnung massiv in Mitleidenschaft gezogen werden.
Für jeden zusätzlichen Prozentpunkt an Leerfahren muss die im Ladungsverkehr in Europa tätige Fernverkehrsflotte mit rund 500.000 Einheiten um 5.000 Einheiten erweitert werden. Nur so lässt sich die Transportkapazität auf einem gleichbleibenden Niveau halten. Mehr Fahrzeuge bringen ein erhöhtes Unfallrisiko mit sich, die Sicherheit leidet.
Leben und arbeiten – werden Fahrer tatsächlich geschont?
Thema der Kontroverse sind auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fahrer. Der Kommission zufolge würden sich diese mit der Verordnung verbessern, da sich die Heimkehrintervalle verkürzen und die Ruhezeiten ausdehnen. Die Transportbranche sieht das anders: Viele Fahrer, die international tätig sind, leben in Ost- und Südwesteuropa, wo die Fahrerlöhne relativ gering sind. Die Spesensätze haben mit 50 bis 70 Prozent einen hohen Anteil an ihrem Bareinkommen. Durch die neuen Regeln würden ihre Spesenvergütungen geringer ausfallen. Außerdem wird in Frage gestellt, ob das Unfallrisiko durch Müdigkeit tatsächlich sinkt, wenn die Fahrer mindestens 45 Stunden abseits ihres gewohnten Fahrzeugs in fremder Unterkunft verbringen. Diese langen Phasen könnten neue Ablenkungen und Unterhaltungsmöglichkeiten auf den Plan rufen, die nicht unbedingt für mehr Erholung sorgen müssen.
Fazit
Ein Ende der Diskussion zwischen EU-Kommission und Branche ist nicht in Sicht. Gleiches gilt für schnelle Lösungen, um das Unfallrisiko zu minimieren und die Arbeits- und Lebensbedingungen für Fahrer zu optimieren. Fest steht, dass die genannten Risiken für die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit der Straßentransportsysteme in Europa real sind. Gelingt es nicht, die Verordnungen unter Berücksichtigung dieser Aspekte angemessen zu realisieren, ist die zielführende Wirkung fragwürdig. Sinnvoll und notwendig scheint das Einholen von Meinungen betroffener Fahrer und Betriebe, um realistische und praxisgerechte Lösungen zu erarbeiten. Als eine Anpassung wird beispielsweise die Genehmigung von drei verkürzten Wochenruhezeiten genannt, die aufeinanderfolgend und in der Lkw-Kabine verbracht werden und mit einer Verlängerung der Ruhezeit pro Monat in der Heimat gekoppelt ist. Die sekundären ökonomischen Folgen sind unter Einbeziehung großer internationaler Verlader ebenfalls zu analysieren. Bisherige Anhörungen, welche die Kommission initiierte, wurden diesem Anspruch nicht gerecht.
Hintergrund
Die EU-Kommission hat vor zwölf Monaten einen Vorschlag unterbreitet, um die seit 2006 gültige Vorschrift hinsichtlich der Ruhzeiten von Lastkraftwagen-Fahrern zu verschärfen (Regulation [EC] No 561/2066). Artikel 8 Absatz 8 sieht vor, dass Fahrer pro Woche 45 Stunden Ruhezeit oder mehr außerhalb ihres Fahrzeugs verbringen und Arbeitgeber eine geeignete Unterkunft bereitstellen müssen, wenn Arbeitnehmer keine Möglichkeit haben diese Stunden an einem eigens gewählten Ort zu verbringen. Die Unterkünfte müssen eine angemessene Schlafgelegenheit und sanitäre Einrichtungen aufweisen.